Mein Leben hat plötzlich viel Klarheit und Ruhe gewonnen. Warum, weiß ich nicht. Es kann ja nicht nur an ein paar Bleistiftstrichen liegen, oder doch? Das offene Zimmer im ersten Stock, in dem frühere Mieter wahrscheinlich die Abende vor dem Fernsehapparat verbrachten, nennen wir nun Bibliothek. Wir wollten das Ungetüm von Flachbildschirm da nicht stehen haben und baten die landlady am ersten Tag nach dem Einzug, es wegtragen zu lassen. Ich packte die Handvoll Bücher, die wir aus den DeHaeLs bargen, in ein winziges Bambusmöbelchen. Ab und zu staube ich die sogar ab. Oder nehme eines der unverzichtbaren Werke der Weltliteratur in die Hand. Staune. Stelle den nepalesischen Shakespeare, Romea und Julia - Laxmi Prasad Devkotas Muna Madan dazu. Trotzdem hat es 7 Monate gedauert, bis sich der Nebel in unser beider Seelen gelichtet hat, und wir uns nun zum Nachmittagskaffee in der Hausbibliothek treffen. Auf dem Dach ist es entweder zu heiß oder zu nass.
Eine der letzten Fragen, mit der mich Pranai im Language Hub in Thamel verblüffte, ja geradezu sprachlos machte: Tapailai pani parda kasto khana khanu manparcha? Er wollte mich noch einmal zum Reden bringen. Versuchte, mir noch einmal das Wasser im Mund zusammenlaufen zu lassen. Draußen goss es in Strömen. Ich war zu früh und trocken angekommen, er zu spät und bis auf die Haus nass. Seine einfache Frage lautete, was ich gerne esse, wenn es regnet. Ich schluckte leer. Und versetzte trotzig: Dasselbe, wie wenn es nicht regnet. Er half mir. Lakonisch. Pani parnu aru bela ma jae kanchu teti bela tei kanchu. Daraufhin verpasste er mir die letzte Lektion in nepali lifestyle. Während des Monsuns, erklärte er, wenn es so sehr vom Himmel schüttet, dass nichts mehr geht, steht auch das Leben (the traffic!) in the capital city of Kathmandu still. Jeder und jede setzt sich irgendwo hinein, ins nächstgelegene Café, Restaurant, in eine Bar, Kneipe, wohin auch immer - dafür gibt es ein eigenes Wort, einen Sammel- oder Oberbegriff aus dem Monsunwörterbuch: bhojanalaya - the place, where you meet to have food. Man hört auf zu laufen oder zu fahren, setzt sich, kommt zur Ruhe, schweigt oder redet laut, trinkt Tee, isst Süßigkeiten oder Deftigeres, bis der Regen etwas nachlässt und alle ihre Wege fortsetzen können. Es gibt eigene "Regengerichte". Eigene Regengedichte und Regengeschichten. Davon habe ich auch schon einige auf Lager. Auf der Halde. Das Wort bhojanalaya ist gebildet wie pustakalaya (= library). Alle Substantive auf -alaya, sagt Pranai, weisen auf einen Treffpunkt hin, auf einen Ort, an dem sich Menschen zu gewissen Zwecken, mit bestimmten Interessen und/oder Bedürfnissen einfinden. Pustaka ist das Buch, ein Synonym zu kitab. Das kenne ich schon. Und jetzt, wo die Sprache anfängt, für mich interessant zu werden, ist der Kurs nepali for foreigners (von denen ich schon seit Wochen die einzig verbliebene foreigner bin) zu Ende. Die pustakalaya ist der Ort, an dem sich Bücher versammeln. Oder Menschen, die diese Bücher in die Hand nehmen wollen. Nicht nur, wenn sie vor Sturzbächen ins Innere eines Hauses flüchten.
Monsun ist so etwas wie Landunter auf den Halligen. Ein Stoppsignal.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen