Samstag, November 22, 2025

Thimi

Eigentlich wollten wir heute nach Thimi fahren. Eigentlich heißt die Stadt Madhyapur. Offiziell heißt sie मध्यपुर थिमि - Madhyapur Thimi. Eigentlich war ich da kürzlich zu Fuß. Aber wir peacewalker hatten die falsche Ausfahrt aus der metropolitan city genommen und liefen unendlich lange auf einer Umgehungsstraße nach Bhaktapur. Wir, W und ich wollten uns umsehen an einem sonnigen Samstag in der Umgebung. Nach einer neuen Bleibe. Aber das Deutsche Auswärtige Amt warnte rechtzeitig, nämlich gestern nachmittag um 16:17 Uhr Ortszeit seine lieben Landsleute vor heutigen Unruhen.  

Ex-PM Oli mobilisiert seine Marxisten und Leninisten, stellt eine NVF (National Volunteers Force) auf und ernennt zu deren Chef einen Mann, der mehrere Verfahren am Hals hat wegen Mordes, versuchten Mordes, Anstiftung zu Morden, Entführung, Erpressung und dergleichen mehr. So, so Oli, soll die öffentliche Ordnung gesichert, Gewalt und Anarchie entgegen gewirkt werden. Natürlich gibt niemand den greisen Marxisten und Leninisten freies Geleit!  

So bleiben wir also auf dem Hill und harren der Dinge, die da kommen werden. Geteert wird heute nicht. Und da die Arbeiten gestern nicht fertig wurden, bleiben die Verbindungsstraßen zu den Häusern im Norden der Siedlung weiterhin abgesperrt. Ich kaufe vorsorglich um die Ecke auf der Golfutar ein, Nudeln und Katzenfutter. Hustensaft und tiefgefrorene Yomaris. Bananen, natürlich nepalesische vom Strunk, und Orangen. Die kleinen süßen mit unglaublich vielen Kernen.

Freitag, November 21, 2025

Margasirsa

Zwei Beispiel zum Zeitverständnis: ich frage guruba, warum auf meinem Wandkalender auf dem aktuellen Blatt oben मार्गशीर्ष = Margasirsa steht, wo doch der Monat मंसिर = Mangsir heißt. Wie ich nachgeguckt habe, in der alten und neuen Schreib- und Sprechweise. Er weiß es nicht und fragt einen alten Nachbarn. Der sagt, früher habe der Monat saysb geheissen. Aber welcher?   

Unser Community Manager postete gestern abend um 08:24 pm (= 20:24 Uhr) eine message in nepali im communityinternen Viberchat. Ich verstand nur das Datum: 2082/08/05 - also der 5. des 8. Monats des Jahres 2082. Der fünfte Mangsir oder Margasirsa. Heute! Die anderen Zahlen deuteten wir als Hausnummern, unsere war nicht dabei. Trotzdem ließ ich den Text von einem Vibergestützten Programm ins Englische übersetzen und verstand kein Wort. Auch google präsentierte mir nur reinen nonsense. Wir vertrauten also auf den Augenschein. Als wir nämlich vom Abendessen zurückkamen, stand vor dem Eingangstor schweres Gerät. Das eine erkannte ich als die Teermaschine, die ich in Panipokhari gesehen hatte. Außerdem war ein riesiger Berg Kies abgeladen worden, während wir bei dragon saßen. Sowie mehrere dicke Baumstämme aufgestapelt, alle in identische Längen von etwa einem Meter zerhackt. 

Heute früh auf dem Weg zum Tempel sehe ich, dass vor dem Tor Betriebsamkeit herrscht. Wie immer, wenn gearbeitet werden soll, versammeln sich Menschen wie Ameisen. Es werden offenbar Vorbereitungen getroffen, die Straßen zwischen unseren Häusern neu zu teeren. Erstmal nur die Nordseite. Die Bewohner der Häuser, die es heute betrifft und die zB ihre Autos, Mopeds und Kinderwagen wegstellen sollten, da sie damit rechnen müssen, den ganzen Tag ihr Haus weder verlassen noch betreten zu können, haben das gestern abend zur Schlafenszeit erfahren.

Donnerstag, November 20, 2025

Neumond

Der Mond wird am Mittag neu auf dem Hill. Und das Internet verabschiedet sich. Der Strom ist da, auch das Wasser, die Sonne und der blaue Himmel. 

Was gibt es schöneres als internetfrei - ich setze mich aufs Dach mit Thjom,as Bells Buch über Kathmandu. Und stolpere sofort über das Zitat, das er Sylvain Lévi entlehnt und dem 6. Kapitel voranstellt:

"To be sure Hindus are far too little concerned with chronology to be in a position to claim that they introduce plausibility or logic into it, even when they invent it". 

Ich verstehe wohl, wovon die Rede ist - von der schwierigen Beziehung der Hindus zur Zeit (das gilt in nach-monarchistischen Zeiten in diesem Land auch für die Maoisten, Marxisten, Leninisten usw.). Ich verstehe aber die syntaktische Logik des Satzes nicht. Weil es eine Übersetzung aus dem Französischen ist, kehre ich an meinen Schreibtisch zurück und suche das Original. Dazu brauche ich das Internet und es ist wie durch ein Wunder wieder da. Der französische Orientalist Sylvain Lévi war 1898 auf Forschungsreise im Kathmandu Valley. Wieder zu Hause am Schreibtisch, schrieb er seine Ergebnisse nieder. Der von Bell englisch zitierte Satz lautet im Original so: "Sans doute les Hindous sont trop peu soucieux de la chronologie pour se piquer d'y introduire, même quand ils l'inventent, la vraisemblance et la logique" (Sylvain Lévi, Le Népal. Etude historique d'un royaume hindou. Paris Ed. Leroux 1905, S. 93)   

Google übersetzt mir das mit meiner minimalen Hilfe folgendermaßen: "Zweifellos kümmern sich Hindus zu wenig um die Chronologie, als dass sie sich die Mühe machen würden, Plausibilität und Logik hineinzubringen, selbst wenn sie sie erfinden."

Ich verstehe in allen drei Sprachen nicht, was die Hindus erfinden: die Chronologie, die Plausibilität oder die Logik? Wie auch immer. Kausalitäten verfälschen und Zeitläufte zurechtbiegen tun auch Menschen anderer Religionen oder Nationalitäten nicht ungerne. Lèvi bezieht sich auf  Stammesfürsten und Herrscher diverser Splitterkönigreiche im 13 Jahrhundert (AD - oder in ganz anderen Weltzeitaltern!). Er weist nach, dass "les Hindous" - wie er sie nennt - nicht nur ein Problem mit der Zeit und der historischen Einordnung ihrer vorsintflutlichen Oberhäupter haben, sondern auch mit den Zahlen. Dass sie etwa - dies nur beispielhaft, ohne historische Bedeutung - aus den Jahreszahlen 1234 und 1389 so etwas kreieren wie 3124 und 3189. Nur weil in beiden ursprünglichen Jahreszahlen die Zahlen 3 und 1 vorkommen.

Das ist das, was ich täglich in den shutters auf der Golfutar erlebe. Die Gemüse- und Obstverkäufer können nicht rechnen. Sie addieren alles auf ihren Taschenrechnern. Weil ich die Preise eh nicht verstehe, ist das praktisch. Denn ich kann lesen. Auch das Wechselgeld wird über die kleine Maschine, manchmal ist es auch das Smartphone, errechnet. Und die Noten in der Hand werden dreimal nachgezählt. Auch im Supermarkt mit elektronischer Kasse.

Vielleicht geht die Unfähigkeit der heutigen Nepali, die Welt oder das Leben in einer (auch) zeitlichen Dimension wahrzunehmen und zum Beispiel einen Kalender im Kopf zu haben, zu wissen, was heute ist und was sie morgen. übermorgen, oder nächste Woche tun werden, auf die Unfähigkeit zurück, Zahlen zu (er)kennen?

Mittwoch, November 19, 2025

Die Papierblume

Es ist eine Bougainvillea - eine Drillingsblume. Sie gehört zur Familie der Wunderblumengewächse. Ich lag mit meinen Vermutungen nicht verkehrt. Die roten Blätter sind Blätter und die Blüten weiß versteckt darin, jedenfalls bei mir, winzig und immer zu dritt angeordnet. Deswegen zu deutsch die Drillingsblume. Den wissenschaftlichen Namen verdanken wir Monsieur Louis Antoine de Bougainville, Seefahrer und Entdecker, wie ich lese. Er soll die Pflanze von Südamerika nach Europa gebracht haben. Aber ich lebe in Südasien und warum der Name des Abenteurers für die Pflanze leicht latinisiert (oder was bedeutet die Endung -ea?) wurde, weiß ich nicht. Die Insel Bougainville trägt seinen Namen stolz französisch.

Hier heißt sie कागजो फूल - kagaji ful - oder कागजको फूल - kagajko ful. "ful" für Blume (hatten wir schon des öftern) und "kagaji" oder "kagajko" zu कागज - das Papier mit (falls diese Sprache so etwas wie Grammatik kennt) Genitivpartikel. Die Papierblume! Die Blume des Papiers. Oder die Blume aus Papier. Diese leuchtend crimsonroten Blätter, die nicht die Blüten sind, aber die Pflanze, wenn sie blüht, vollkommen dominieren, fühlen sich tatsächlich zart wie japanisches Seidenpapier an, wenn ich sie berühre - was ich allerdings nicht zu oft tun sollte. Denn sie fallen leicht ab.

Dienstag, November 18, 2025

Das Idyll

Eier sind mehr als ein Viertel teurer geworden, seit ich das letzte Karat kaufte. Heute früh balancierte ich 5x6=30 frische Eier bruchsicher über die zu der Zeit immer chaotische Golfutar. Das machen alle so, also ist es nicht weiter schwierig.

Das Idyll hingegen ist statisch. Stillstand. Letztlich langweilig. Es taugt nicht zur Legendenbildung, ihm fehlt der Nervenkitzel. Mit der reinen Harmonie im Valley unter den Nagarajas musste etwas geschehen, sonst wäre sie nicht der Rede wert. Irgendwie mussten die Menschen angelockt werden, die heute die Straßen der Stadt füllen und die Luft zum Atmen verpesten. Schwimmen können die meisten Nepali nicht, Luft- oder Wasserschlösser bauen auch nicht, nicht einmal im Traum. Wasser ist nicht ihr Element! Wäre der See ein See geblieben, hätte man den Nagarajas, die sich darin pudelwohl fühlten, nicht den Garaus machen brauchen, und alles wäre in schönster kosmischer Ordnung geblieben. So aber, munkelt man, hocken die Nagas, die Schlangen, immer noch verschnupft und stinkesauer in unterirdischen Wasserläufen und lauern nur darauf, den Intrudern eins auszuwischen. Wehe, einer baut an der falschen Stelle und hört nicht auf den Rat der Weisen, Weissager, Wünschelrutengänger, Astrologen, Lamas, Gurus oder Geobiologen!

Montag, November 17, 2025

bleiben

Heute ist der 17. November 2025. Und der 1. Mangsir 2082. मंसिर oder मार्गशीर्ष ist der achte Monate im nepalesischen Kalender. In diesem Jahr hat er 29 Tage. In manchen auch 30.  

Wir sind am 17. vor einem Jahr und zwei Monaten in Kathmandu angekommen. Auch damals begann gerade ein neuer Monat im nepalesischen Kalender, es war der erste Tag des sechsten Monats असोज - Ashoj oder आश्विन - Ashwin des Jahres 2081. Wir sind also nach BS - Bikram Sambat exact 14 Monate im Lande. Das ist auch hier ein Jahr und zwei Monate.  

Zur Feier des Tages Bilder einer Pflanze, deren Name ich nicht kenne. Sie wächst an unserer Hauswand, obwohl die Besitzer vor unserem Einzug versucht haben, sie zu vertreiben. Der Strunk sah brutal und unprofessionell zerhackt aus. 
Anfang Februar gab sie mir deutlich zu verstehen, dass sie trotz Verunstaltung bleiben wollte, also schützte ich sie mit ein paar Steinen und versorgte sie regelmäßig mit Wasser. Alles andere bekam sie vom Himmel, von der Sonne. Die Handwerker, die bald darauf für Wochen, Monate unseren Vorgarten besetzten - zuerst die Maurer mit ihren Sand- und Zementsäcken, und den Schuttsäcken, die sie vom Dach herunterholten, dann die Maler und ihr rund um das Haus wanderndes massives Bambusgerüst - respektierten seltsamerweise mein Stein-Arrangement. Kein einziger der ersten zarten Triebe wurde gebrochen oder zertrampelt. 
Seither drängt die Pflanze mit aller Macht nach oben. Unsere Landlady versuchte mir einst zu verstehen zu geben, dass Pflanzen während der Regenzeit außer Kontrolle geraten. Ich verstand natürlich nicht, was sie mir damit sagen wollte.
Seit ein paar Tagen nun blüht unser Wunderkind feuerrot. Wunderkind, weil sie, die Pflanze eine unheimliche Kraft besitzt und bereits faustdicke Äste hat. Auch Dornen, übrigens. Aber Wunderkind vor allem, weil ich nicht verstehe, wie sie ihre Blüten produziert. Woher sie das crimson, das Purpur nimmt. Knospen sehe ich keine. Es ist so, als ob einfach unvermutet, quasi über Nacht Büschelweise rote Blätter hervorkommen. In den Novembermorgen, die Novembersonne, den Novemberhimmel. 

Ja, das ist unser November. Der nepalesische Mangsir. Und unsere Hauswand. 

Sonntag, November 16, 2025

Der Zwist

Ich verstehe nicht, warum Manjushri als Bodhisattva der Weisheit und eine der wichtigsten Figuren des Mahayana Buddhismus gilt. Für mich ist er ein Schlitzohr. Ein Waffenträger. Ein Draufgänger. Einer, der zuerst zuschlägt und erst dann die Folgen seines Tuns bedenkt. Einer, der Zerwürfnisse in Kauf nimmt, um seine Ideen durchzusetzen. Auch ein heiliges Schwert, ein Flammenschwert - vajra sword of discriminating light - rechtfertigt nicht den Frevel! 

Im Valley, in der Legende nach Swayambhu Purana war zuerst Kacchapal Parvata, der Schildkrötenberg erzürnt, verwundet und zutiefst verletzt. Manjushri hatte ihn ohne Vorwarnung entzweigehauen. Dann die Schlangen, denen mit dem abfließenden Wasser jede Lebensgrundlage entzogen wurde. Der Berg besänftigte Manjushri mit dem Versprechen, auf seinem lädierten Gipfel einen Schrein für Karunamaya, den Allbarmherzigsten zu errichten. Damit werde ein heiliger Ort installiert, der Pilger aus der ganzen Welt zur spirituellen Einkehr einlade. Der Schildkrötenberg nickte. Was blieb ihm anderes übrig? 

Die Schlangencommunity hingegen war unrettbar entzweit. Die Nagarajas hatten im Gegensatz zum Kacchapal Parvata den Vorteil, mobil zu sein. Nichts hielt sie nicht mehr in ihrem gelobten Lande. König Taksaka Nagaraja verließ mit seiner Familie hoch erhobenen Hauptes das Valley. Auf die Bücklinge des Bodhisattvas erwiderte er unmissverständlich: "Du hast meine Heimat - den See - zerstört. Ich gehe zur Konkurrenz - zum Meer!" Kulika Nagaraja, der zweite Schlangenkönig war nicht auf den Kopf gefallen und ließ sich auf einen Handel mit dem falschen Gönner ein. Manjushri versprach ihm ein ruhiges Gewässer als neue Heimat und Kulika rechnete damit, dass der Bodhisattva nicht ewig im Valley bleiben würde. Sobald er wieder verschwunden wäre, würden seine Schlangen Mittel und Wege finden, das Loch zuzustopfen und den See wieder mit Wasser zu füllen. Er zog guter Dinge mit seiner Familie nach Tokha an die Vishnumati Quelle. Nur Karkotaka, der König der Könige der Nagarajas, Besitzer des Nagarasahrada, des Königreichnagasees, akzeptierte das Angebot Manjushris ohne Hintergedanken und zog in eine neuerschaffene Residenz innerhalb des Valleys, an den Taudaha See.

Manjushri hatte Schmerz, Vertreibung, Unfrieden und böse Gedanken ins Valley gebracht - unter dem Vorwand, den Boden urbar zu machen, damit sich Menschen ansiedeln konnten, die Swayambhu verehren würden. Die Geschichtsbücher des Abendlandes kennen für so eine Konstellation den Begriff "Religionskrieg".