Donnerstag, Oktober 23, 2025

bhaitika

Heute ist noch mehr Feiertag. Der allerwichtigste Tag von Tihar. Sagen die einen. Und die anderen sagen, Tihar sei gestern zu Ende gegangen und Bhaitika - der Geschwistertag, eigentlich der Tag, an dem der (jüngere = भाइ bhai) Bruder von der (älteren = दिदी didi) Schwester Tika empfängt - gehöre gar nicht mehr zu Tihar. Wie auch immer. Legenden gibt es ohne Ende. Heute verehren, bewundern, verherrlichen die Schwestern ihre Brüder, indem sie ihnen eine mehrfarbige Tika auf die Stirn tupfen oder malen, dabei Segenswünsche aussprechen und dem sunnyboy Süßigkeiten schenken. Traditionell soll die bhaitika von sechs bis zu zehn Farben appliziert werden. Wie eine doppelte oder dreifache Ampel: weiß, gelb, violett, rosa, grün, mehrere Blautöne von himmel- über hell- und dunkelblau bis Indigo und Lapislazuli), orange, rost- oder feuerrot. Siehe hier.  

Die Geschwister sollen sich so gegenüber sitzen, dass die tikaspendende Schwester nach Osten guckt, der tikaempfangende Bruder nach Westen. Diese Sitzordnung folgt der derzeitigen Position des Mond in der Waage. Ich weiß nicht, ob sie die Plätze tauschen, wenn der Bruder Segenswünsche, Geschenke und Tika erwidert.

Die beste Zeit ist 11:39 am, das hat das ZK festgelegt. Präsident Paudel empfängt pünktlich zu dieser auspicous time Blumengirlanden und Tikas von seinen Schwestern. Alle andern dürfen vorher und nachher, den lieben langen Tag dranbleiben. Ohne Schaden! Um meinen bescheidenen Shivatempel versammeln sich seit Sonnenaufgang Brüder und Schwestern, die wie Verliebte auf den Bänken unter dem Laxmibaum und rund um den Bodhibaum sitzen und tuscheln. Vielleicht sind es tatsächlich Verliebte, die sich als Geschwister ausgeben und so öffentlich ohne Schelte turteln dürfen. Denn: wer keine Schwester oder keinen Bruder hat, der oder die soll das Ritual mit jeder beliebiggeliebten Person vollziehen. Hauptsache niemand geht leer aus. Irgendwann springt das Girl unter meinem Fenster auf, holt von Shivas Lingam ein bisschen Zinnoberrot - andere Farben bietet Shiva hier nicht an - auf die Zeigefingerspitze und tupft es dem Boy lachend mitten auf die Stirn. Sie umarmen und küssen sich und ziehen zufrieden ab. So geht das nun schon seit Stunden.

Während ich auf dem Dach sitze und mein erstes Frühstück löffle, beehrt mich big brother aus gebührender Distanz. Ein kräftiger Affenbulle inspiziert die Dächer der gegenüberliegenden Häuser. Wahrscheinlich die Vorhut einer ganzen Bande. Er springt vom Laxmibaum auf das erste Haus an der Ecke, klettert behende die Fassade hoch und setzt über. Massig. Perfekt. Ohne sein Ziel je zu verfehlen. Von einer Terrasse auf die nächste. Steigt zwischendurch ganz hoch, auf die Dächer, die mehrstöckig sind, und kommt schnell wieder herunter. Dort oben gibt es auch nichts zu stibitzen. Am Eckhaus am anderen Ende denkt er lange darüber nach, ob und wie er wieder auf die Straße kommt. Die Gegenüber-Nachbars-Ehemänner sind alarmiert und treten mit Stöcken bewaffnet verschlafen auf die Dächer aus Türen, die sonst nur den maids mit ihren Wäschekörben und कुचो - kuco, der nepalesische Allerweltsbesen - vorbehalten sind.

Mittwoch, Oktober 22, 2025

Neujahr

Heute ist mehr Feiertag als gestern. So etwas liegt in der Luft und ich spüre es mittlerweile, kaum trete ich aus dem Tor unserer guarded community. Die meisten shutters auf der Golfutar sind geschlossen. Gestern herrschte da freudige Geschäftigkeit, heute träge Ruhe. Feiertag eben, verdient. Der Joghurtmann hat wie immer geöffnet, weil er auch Milch verkauft. Seine Frau bedient mich und spricht die ganze Zeit in das zwischen das linke Ohr und die linke Achsel geklemmte Smartphone. Trinkwasser wurde gestern nicht geliefert, also wird es heute erst recht keines geben. Die Newari feiern den Beginn des Jahres 1146 (Nepal Sambat). Und Mha Puja. Für sie ist heute der zweite Tag von Tihar und sie haben insgesamt nur drei. Für andere ist heute der vierte oder fünfte Tag von Tihar. Präsident Paudel und seine First Lady beehren schwarze (Holsteiner?) Kühe mit Delikatessen - also ist heute (und nicht, wie ich annahm, gestern) गाई तिहार - Gai Tihar. Die Kühe auf dem Bild in der Zeitung heute sehen nicht glücklicher aus als gestern die Ziegen vor dem Schlachter. Die wenigen Grasbüschel zwischen den Pflastersteinen scheinen ihnen besser zu schmecken als der von Menschenhand gereichte Leckerbissen.

Die Newari feiern heute nicht nur das neue Jahr, sondern in erster Linie sich selbst. Mit Mah Puja - worship of the (own) body. Das Ritual dient der Reinigung des Geistes, des Körpers, der Gedanken und der Sprache (!) zum Jahresanfang. Der Mensch soll zuerst sein Selbst und sein Bewusstsein schärfen (in einem Akt der Disziplin und Dankbarkeit), die eigenen Ressourcen mobilisieren und sich selbst physisch und spirituell stärken, ehe er oder sie den Beistand der Götter sucht. Das klingt für mich sehr überzeugend!  

Die Interimsregierung unter PMin Karki hat beschlossen, inskünftig auch das Nepal-Sambat-Datum auf die nepalesischen Rupee-Banknoten zu drucken. Besiegelt wird dieser Beschluss heute mit einem Festakt und Kranzniederlegung am Denkmal des legendären Kalendergründers संखधर साख्वा - Shankhadhar Sakhwa in Madhyapur Thimi bei Bhaktapur. 

Dienstag, Oktober 21, 2025

Neumond

In Kathmandu ist der Mond um 06:10 pm neu. Oder leer, wie meine Mutter zu sagen pflegte. Also nimmt er danach wieder zu. Bis er eines Tages voll ist. Also haben wir die finsterste Nacht hinter uns. Diese hier so genannte शुखरात्री - sukharatri (von शुख = glücklich, gut + रात्री = eigentlich Vorabend, zu रात Nacht) - die gute, glückliche Nacht, in der Laxmi zu Besuch kommt und ihren Reichtum über uns ausschüttet. Ich lerne, dass die Glücksgöttin Laxmi für die Anlieferung des materiellen Wohlstands zuständig ist, ihr Kollege Kuber aber für die Bewahrung und den Schutz desselben. Am Morgen nach dieser seltsamen Nacht laufe ich durch die Straßen und bewundere Rangolis. Mir gehört der Tag! Und die Hindus sind offenbar selbst nicht sicher, ob die Wohlstand garantierende Nacht schon vorbei ist. Jedenfalls werden immer noch Farben für Rangolis feilgehalten, und Nüsse, Rosinen, Topis für die Geschwister. Heute müssten, denke ich,  auch die Kühe verherrlicht werden. गाई तिहार - Gai Tihar, the cow festival. Aber sicher ist derzeit gar nichts. 

Mir kommt keine einzige Kuh entgegen, nur ein schwarzer Hund schläft vor einem Friseursalon seinen Kater nach Kukur Tihar aus, mit einer roten und einer lila Locke im Fell. 

Vor einem Fleischerladen angebunden sind zwei sehr unglücklich dreinschauende Ziegen. Daneben gackern mehrere muntere Hühner in einem Käfig. Man kann alle Tiere lebendig kaufen und selbst rupfen oder schlachten. 

Später laufe ich an einer Motorradfahrlehrschule vorbei, wo am Feiertag ein einsamer Schüler Kurvendrehen übt.

Es kommen mir viele singende und musizierende Kinder und Jugendliche entgegen. Die veranstalten देउसी भैलो -  deusi-bhailo - cultural singing and dancing. Natürlich zum Zwecke des Geldeinsammelns. Was Laxmi in der letzten Nacht nicht angeliefert hat, muss jede/r selbst bei den Nachbarn, auf der Straße, in den shutters erbetteln. Das wird sich zum Abend hin und wahrscheinlich über die nächsten Tage noch intensivieren. Laut einer Pressemeldung der Stadt darf deusi-bhailo nur bis 9 pm praktiziert werden, man soll dabei keine Verstärker mittragen und nicht den Verkehr behindern. 

Und last but not least: die Newari haben heute Silvester. Das Jahr 1145 nach dem Nepal Sambat Kalender geht zu Ende. Geknallt wird kaum noch und als ich nach Hause komme, ist kurz der Strom weg.

Montag, Oktober 20, 2025

Rangoli

Die Konkurrenz (zu Dragon) ist noch schwer am Arbeiten, als wir mit vollen Bäuchen nach Hause, in unsere hell erleuchtete namenlose Festung laufen. 



Kukur Tihar

कुकुर - kukur ist der Hund. Eines meiner ersten Wörter, nach बिरालो - biralo, der bei den Nepali so unbeliebten Katze. Früh am Morgen wird der Müll abgeholt, das ist immer ein gutes Zeichen an public holidays. Später läuft eine schwarze Katze durch die Siedlung. Nur mir zur Freude: eine der Zurückgekehrten. Am Vormittag werden die Hunde gefeiert, obwohl bereits der dritte Tag von Tihar angebrochen ist und die Hunde normalerweise am zweiten Tag an der Reihe sind. In diesem Jahr ist alles anders, das ZK - bzw NCDC - musste den Kalender berichtigen, anpassen, weil der Mond verrückt spielt. Die Hunde gelten hierzulande - anders als die Katzen - als Freund des Menschen. Sie schieben aber auch Wache vor den Toren zu Yamarajs Unterwelt. Also ist es besser, sich mit ihnen gut zu stellen. Traditionell werden an Kukur Tihar die Polizeihunde der Öffentlichkeit vorgeführt - in diesem Jahr weniger spektakulär als sonst. Auch die Polizeistellen wurden landesweit verwüstet im Zuge der Gen Z Manifestationen. Deshalb zeigt man jetzt lieber Demut als Zucht. Am Nachmittag empfängt Interims-PM Karki die sterblichen Überreste von Bipin Joshi, der letzten nepalesischen Geisel der Hamas, am TIA, bevor der Sarg mit einer Militärmaschine nach Dhangadhi und weiter zu seiner Familie nach Kanchanpur transportiert wird. Dies ist der einzige Ort im ganzen Land, in dem heute keine Lichter brennen. In diesem Jahr überschlägt sich alles. Präsident Paudel verkündet natürlich seine Tiharwünsche. Auf der Golfutar wurden am frühen Morgen die shutters geputzt und Bürgersteige gebürstet. Die dunkelste Nacht steht uns bevor und Laxmi wird mit unruhig hüpfenden LED-Lichterketten, aber auch mit Kerzen, Öllampen, kunstvollen Rangolis und Fußabdrücken, die die Richtung vorgeben, in jedes Haus, sicher über jeden Stolperstein und jede Treppenstufe gelockt. Die Farben für die Rangolis tauchen erst am Abend von fliegenden Händlern an allen Ecken der Stadt auf. Das ist etwa so, wie wenn in anderen Teilen der Welt der Weihnachtsbaumverkauf am 24.12. nach Sonnenuntergang begänne ... 

Hier der Eingang zu unserem Lieblings-Dragon. Die Spur für Laxmi führt nicht in die Küche, sondern an die Kasse. Wir essen scharfe Drunken noodles. Auf dem Heimweg kaufen wir eine Flasche 8848 und bekommen ein Selroti dazu geschenkt. Zu Hause setzen wir uns aufs Dach und erleben so etwas wie Silvester. Knallerei rund um, buntes Glitzern und Feuerwerke über der Stadt. Wir trinken eine halbe Flasche Hoya de Cadenas und lassen Laxmi in Ruhe. Wir zünden nur ein Räucherstäbchen gegen die Mücken an.  

Sonntag, Oktober 19, 2025

Dhanwantari day

Der heutige Tag begann schon gestern Abend und ist der Geburtstag von Lord Dhanwantari, dem Arzt der Götter oder Schöpfer von Ayurveda. Dhanwantari soll dem Milchozean oder dem Urmeer (wer kann das schon wissen) entstiegen sein, mit zwei oder vier Händen, in der einen hält er einen Krug mit dem Nektar des Lebens , mit dem Unsterblichkeitstrank Amrit, in der oder den anderen Kräuter, Schneckentrompeten oder Blutegel. Die Krähen werden auch heute gefüttert, damit sie die Unsterblichkeit nicht gefährden. Und die gläubigen Hindufrauen fasten, der Gesundheit zuliebe, bis Laxmi kommt. Wer unbedingt einkaufen will, soll Gegenstände aus Stahl, Kupfer, Zink oder Messing besorgen, oder Gold, so viel wie möglich heranschaffen, und alles in der Nord-Ost Ecke des eigenen Hauses aufstellen. Auf keinen Fall etwas davon verschenken!

Samstag, Oktober 18, 2025

Yama Panchak

Nun ist es soweit: der nächste Festivalmarathon nach Dashain beginnt. Der Monat Kartik beginnt und nach der Mithila Tradition beginnt तिहार - Tihar mit Dhanteras - das ist auch heute, aber erst nach Sonnenuntergang. Tihar ist das Lichterfest oder das Festival der Tiere oder eben Yama Panchak - das Ritual, das auch heute beginnt. Der Tanz um Yamaraj, den Gott der Unterwelt und das Besänftigen der Hüter der Tore zu derselben. Normalerweise dauert Tihar 5 Tage, von Kartik Krishna Trayodashi (heute von 01:12 pm bis morgen 01:56 pm - also länger als 24 Stunden) bis Kartik Shukla Dwitiya (das wird nächsten Donnerstag überlappend bis Freitag sein). In diesem Jahr dauert eben deshalb, wegen overlapping lunar dates oder lunar alignment, Tihar 6 Tage. Also ungefähr von heute Mittag bis schätzungsweise nächsten Freitag Vormittag. 

Das Festival der Tiere beginnt, anders als der Karneval derselben ("Carnaval des animaux") mit den Krähen. Heute nachmittag feiern einige Hindus bereits काग तिहार - Kaag Tihar, andere erst morgen Mittag. Bei uns versammeln sich die काग tatsächlich, wie gerufen, schon den ganzen Tag zuhauf im Laxmibaum und im Bodhibaum und im Gestrüpp rund um den Shivatempel sowie auf den Dächern all unserer Nachbarn. Das wilde Gekreisch ist unüberhörbar. Wahrscheinlich werden die Todesboten mit Futter angelockt. Das soll sie nämlich besänftigen und von ihrer Hauptaufgabe ablenken. Heute wie morgen.