Montag, Dezember 15, 2025

Der abnehmende Mond

Heute ist der letzte Tag des Monats Mangsir, der 29. In diesem Jahr hat er nur 29 Tage, in anderen 30. Warum das so ist, kann mir wie immer niemand erklären. Ich nehme an, es liegt am Mond. Heute ist der 10. Tag des abnehmenden Mondes. Die Sichel am östlichen Morgenhimmel wird täglich dünner. Noch fünf Tage bis Neumond. 

Thomas Bell zitiert in seinem Buch über Kathmandu wörtlich einen buddhistischen Priester, einen alten gubhaju ("he was in his eighties, sitting cross-legged on the floor"), den er zum Mandala der Stadt befragen will und der ihm ungefragt ganz andere Auskünfte erteilt: "People celebrate the day Manjushree cut the mountain on the tenth day of the waning moon of Mangsir."

Das wäre also heute. Ich treffe niemanden an, der in besonderer Weise den Bodhisattwa der Weisheit, Manjushri dafür feiert, dass er mit seinem Feuerschwert den Berg zerschlagen hat, das Wasser ablaufen ließ, den Nagarajas ihre Lebensgrundlage nahm und gleichzeitig den Menschen eine Lebensgrundlage schuf. 

Sonntag, Dezember 14, 2025

Dhapasi Devi

Heute laufe ich in die andere Richtung. Nach Süden, Südwesten. Nach Dhapasi. Ich wollte schon lange zu dem alten Tempel. Und komme, ahnungs- und absichtslos an einer Kopie vom schlafenden Shiva (oder wer auch immer das ist) vorbei. Wieder im Wasserbecken (das Wasser kommt hier aus einem ganz normalen Plastikschlauch), wieder bewacht und beschützt von den Nagarajas, den elfköpfigen Schlangen, den Ureinwohner des Valleys. 

Dhapasi. Kleiner, bescheidener. Ein uraltes Dorf mitten in Kathmandu. Nett. Verblüffend. Auch unter einem Baldachin. Ich bin ganz allein hier. Es gäbe noch mindestens vier andere Tempel zu besichtigen. Aber ich eile nach Hause, um am Schreibtisch diese Inschrift zu entziffern:

Samstag, Dezember 13, 2025

Wir steigen endlich zum schlafenden Shiva hoch, zum Budhanilkanta Tempel. Unserem eigentlichen Haustempel. 

Das Prachtsexemplar eines ॐ (om), das wir dort entdecken ist einfach der Buchstabe O mit dem M darüber (in Sanskrit und allen ihm verwandten Sprachen wie Nepali).

Den schlafenden Shiva soll man nicht aufwecken und vor allem nicht knipsen, also belassen wir es beim ॐ (und erinnern uns an das Mantra ॐ नमः शिवाय). Es ist sonnig und warm und wir sind weit und breit die einzigen Ausländer. Es ist Samstag und die Nepali feiern ihr Wochenende und besuchen den liegenden Gott (manche sagen, es sei Vishnu oder Mahavishnu, andere Shiva, und dritte Narayan oder Jalakshayan Narayan). Er  soll aus einem Stück schwarzem Basalt geschaffen sein, mitsamt Schlangenbett! Die Schlangen gehören hier immer dazu. Man hört auch, dass der Basaltbrocken "außerirdischen" Ursprungs sei. Untersuchungen dazu werden aus Pietät nicht zugelassen. Man soll den Schlafenden nicht stören! Und natürlich schwimmt er in heiligem Wasser aus dem mythischen Gosaikundasee.

Freitag, Dezember 12, 2025

सुकुन्दा

Alles ist hier mehrstöckig. Ich sagte es bereits. Das Land ist steil und zerklüftet. Voller Berge und Täler. Auch die Stadt. Nach einem guten Jahr lernen wir, nach oben zu gucken, wenn ebenerdig nur Werkzeug oder rohes Fleisch verkauft wird. Wir sind auf der Suche nach Sukunda, einem Newari Restaurant um die Ecke. Geschrieben सुकुन्डा oder सुकुन्दा. Geht immer beides. सुकुन्दा नेवारी खाजा घर - Sukunda Newari Khaja Ghar. Sukunda - Newari Speiselokal. 

Wir steigen eine steile Treppe hoch und werden von oben bereits beäugt. Alle gucken. Die Raucher (eine Raucherkneipe), die Kinder, die Oma, die Köchin, der Kellner (ein Familienbetrieb). Wir essen wunderbare Speisen und von allem viel zu viel!

Zu Hause lerne ich, dass auch Sukunda mit dem See zu tun hat, auf dessen Grund wir leben. Ob unten im Tal oder oben auf dem Hill, Licht ist immer vonnöten. Sukunda ist die Öllampe der Newaris. Sie wurde von einem Newari-Kufpergießer im 19. Jahrhundert geschaffen und bildet in ihrem ästhetischen Konzept, wie es heißt, die traditionellen Werte ab. "Su" bedeutet schön und "kunda" See. Die Lampe ist verziert mit symbolträchtigen Figuren (dafür gibt es den Begriff Symb-oil-ism), so verschiedener Schlangen, einer elfköpfigen Kobra zum Beispiel, die die Nagarajas, die einstigen Bewohner und Besitzer den Sees verkörpern sowie den Göttern Ganesh, Krishna, Vishnu, Garuda usw. Sie wird heute von Buddhisten und Hindus benützt und zu Beginn aller feierlichen und unfeierlichen (wie Konferenzen und anderen Zusammenkünften, Preisverleihungen, Diplomfeiern usw) Anlässen entzündet.

Ohne Farbklecks im Bild geht nichts, ohne Moped oder Vespa nie. Auch am Morgen danach bei hellem Sonnenschein nicht.

Donnerstag, Dezember 11, 2025

Turn

Turn ist das gruppetto der Musiknotation. Ein stilisiertes S über oder neben der Note. Zeigt eine barocke Verzierung an, schlangenförmig wie das S. Die Hauptnote wird durch die unteren und oberen Nebentöne umspielt.  

Es gibt Turns, umgekehrte Turns, gespiegelte Turns und durchgestrichene Turns - sie geben jeweils die Reihenfolge vor. Von oben nach unten oder von unten nach oben. Diese Turns, die musikalischen gruppettos sind wohlklingend, ausschmückend, auf das Schöne und den Effekt, das Resultat bedacht, kooperativ und solidarisch. Wie die Radler.

Ich lese (hier gibt es alles dazu, quer durch die Jahrhunderte, quer durch die Sprachen), dass es Doppelschläge gibt, die verschieden angeschlagen oder angesungen werden. Man hat dafür Wörter wie Variiertriller, Pralltriller, Schleifer,  Mordent usw gefunden. Auch gibt es in der Musik Punkte mit Zeitwert, sie treten einzeln oder zu zweit auf (ohne Doppelpunkte zu sein), sind kleiner oder größer. Die Zeit beim Musizieren muss entsprechend eingehalten werden. 

Mittwoch, Dezember 10, 2025

weiß-rot

Es gibt einen zweiten Tempel über meinem bescheidenen kleinen Shivatempel. Hier ist alles steil und übereinander gestapelt. Der zweite Tempel (vielleicht war es einst der erste oder ist überhaupt die ursprünglich heilige Stätte) steht auf dem höchsten Punkt unseres bescheidenen kleinen Hills und hat kein Dach. Ich laufe täglich daran vorbei, bevor ich die steile Steintreppe mit den überdimensionierten Stufen hinunter zu meinem Laxmibaum nehme. Der open air Tempel ist mächtig, rechteckig und rundum gut gepflegt in den Farben Polens oder der Schweiz oder eben in buddhistisch-hinduistisch weiß für Reinheit und rot für Macht oder Leidenschaft. Tempel Zwo wird genau einmal im Jahr einen ganzen Tag lang mit Pauken, Trompeten und Trommeln von einer kleinen Gemeinde besucht. Mit einem halben Dutzend Ziegen, zwei Schlachtern, einem Priester unter einem Baldachin, vielen Begleitern und Helfern sowie rot gekleideten Frauen mit diversen Gaben. Auf der Wiese daneben (hinter unserem communityeigenen swimming pool) wird seit dem frühen Morgen jeweils gekocht in einer ad hoc installierten open air Küche. Riesige Mengen von Reis und Gemüse, Tellern und Gläsern, Gas- und Wasserflaschen werden herangeschafft. Stapelweise blaue Plastikstühle. Es ist immer derselbe Tag im Mondkalender, ungefähr fünf Tage nach Yomari Punhi oder nach Mangsir Vollmond. Jedenfalls war das letztes Jahr so und in diesem. Mehr Beobachtungszeitraum steht mir noch nicht zur Verfügung, aber so viel immerhin!

Innen gibt es eine Art Altar. Normalerweise liegen darauf nur schöne große runde Steine. Heute, am Tage danach, sieht er reich geschmückt und rundum blutverschmiert aus. Von den Ziegen ist nichts anderes mehr übrig. Ich knipse durch die Gitterstäbe. Das Tor ist das restliche Jahr über verschlossen. 

Das Blau über allem - der Himmel! - ist authentisch. So ist das Wetter in Kathmandu am 10. Dezember. Vor 32 Jahren haben wir in Warschau geheiratet. Es war bitterkalt und wir stapften durch kniehohen Schnee. Der Himmel war bleiern und bereits dunkel, als wir beim Standesamt eintrafen. Mäntel und Stiefel legten wir an der Garderobe ab und ich zog meine edlen gletschernelkenrosa Ballypumps aus der Tasche, die mir immer zu klein waren!

Dienstag, Dezember 09, 2025

Calotes versicolor

Auch mir werden Tieropfer dargebracht. Über Nacht hat mir eine der Katzen, vermute ich, wieder ein Geschenk vor die Tür gelegt. Tom ist schon lange nicht mehr da, dafür sind die anderen umso übermütiger. Eine Schönechse, wie ich vermute, mit elegant langem Schwanz. Aber sie bewegt sich nicht mehr und der Schwanz ist stocksteif. Wahrscheinlich war sie für ihren Mörder zu wenig ertragreich. Die Mühe lohnt nicht, den Panzer aufzubrechen und nach Fett oder Eiweiß zu suchen. Wobei das gar kein Panzer ist. Vielleicht ist es auch eine Blutsaugeragame. Beide gehören zu der Gruppe der calotes versicilor. Sie ist größer als alle Geckos, die ich im Haus und rund um das Haus sehe. Hat tatsächlich einen roten Hals, aber wie ich vermute blutunterlaufen, von Katzenzähnen zerbissen oder einer spitzen Kralle aufgekratzt. Sie liegt auf dem Rücken und zeigt mir auch auf der schmalen Brust eine Wunde. Ich trage sie an den Rand meines Gartens, hinter den jungen Feigenbaum und bedecke sie mit heruntergefallenen immer noch roten Papierblumenblütenblättern.