Juni 27, 2024

the most probable value

Wissenschaftler denken anders als Fernsehjournalisten mit ihren Fingernageltheorien. Die porters (siehe Forty Years in the Mountains, S. 186 ff), die ihnen und den Promibergsteigern auf die Höhe helfen, haben nichts zu sagen. Sie tragen. Zelte, Brennmaterial, ganze Küchen und volle Vorratskammern, Reissäcke und Chilischoten, Wechselkleidung, Sauerstoffflaschen sowie natürlich das teure, hochempfindliche technische Equipment westeuropäischer Fernsehanstalten. 

Der Mount Everest, lese ich, ist seit der letzten Messung um fast einen Meter gewachsen. Nach dem verheerenden Erdbeben der Stärke 7,8 im Jahr 2015 machten sich chinesische und nepalesische Vermessungsteams auf, den Berg auf ihrer gemeinsamen Grenze neu zu vermessen - unter den kritischen Augen der geografischen Weltgemeinschaft sowie einer Wissenschaft, die gierig alle Daten, derer sie habhaft werden konnte, schluckte und analysierte.

Ich weiß, dass die Glarner Alpen durch Oberflächenerosion und die Erdanziehung in Schach gehalten werden. Nichts desto trotz sind auch sie in ständiger Bewegung. Unter dem abschmelzenden ewigen Eis fangen sie an zu bröckeln. Im Himalaya herrschen aber ganz andere Kräfte. Die Indische und Eurasische Kontinentalplatten, die einst in einem tektonischen worst case die Landschaft auf einer Länge von 2.500 Kilometeren "zerknitterte", wie es so schön heißt, stehen seither nicht still, sondern knautschen und knutschen weiter. Manche nennen das poetisch einen "geologischen Tanz". Die andern bekennen, dass jede Vermessung ein gewisser "Spielraum für Fehler" begleite: "Wir können weder einen genauen Punkt noch eine genaue Höhe finden". Sie könnten nur versuchen, den MPV - the most probable value - den wahrscheinlichsten Wert zu finden. Danach ist der Mount Everest seit Ende 2020 offiziell 8.848,86 Meter hoch.

Juni 25, 2024

Wachstumsschritte

Ich lese in einem Buch. In einem vor sage und schreibe 37 Jahren erschienen Buch. Und staune und zitiere: "Der Himalaya wächst mit etwa demselben Tempo wie ein Fingernagel: 10-15 cm pro Jahr." ***

Man darf auch Aussagen in traditionellen Druckerzeugnissen hinterfragen. Vor allem dann, wenn es sich um eine Begleiterscheinung zu einer Fernsehserie handelt.

Ich konsultiere also das www und finde - wen wundert's? - zum Wachstum von Fingernägeln widersprüchliche Angaben. Dass sie wachsen, ist unbestritten. Im Winter aber sollen sie langsamer wachsen als im Sommer, bei Männern schneller als bei Frauen, bei jungen Menschen jeglichen Geschlechts noch schneller als bei älteren Menschen jeglichen Geschlecht. Heutzutage wachsen Fingernägel rund um den Globus schneller als vor noch einem halben oder ganzen Jahrhundert, was allgemein auf eine veränderte oder verbesserte Ernährung zurückgeführt wird. Fingernägel wachsen auch schneller als Zehennägel, weil letztere weniger Zeit an Luft und Sonne verbringen. Und last but not least zeigen die Nägel unserer fünf Finger (einer Hand) leider auch kein einheitliches Wachstumstempo. Der Nagel des Mittelfingers wächst schneller als der des Daumens oder des kleinen Fingers. Und so weiter und so fort. Durchschnittlich, sagen meine Quellen auch nicht übereinstimmend, wächst ein Fingernagel zwischen 0,1 und 0,12 mm pro Tag oder zwischen 0,5 und 1 mm pro Woche oder ganz genau 3,47 mm pro Monat!

52 Millimeter (= 52 Wochen/Jahr x 1 mm) oder 41,64 Millimeter (= 12 Monate/Jahr x 3,47 mm) sind aber, wenn mich nicht alles täuscht, immer noch meilenweit entfernt von 10 oder gar 15 Zentimetern.

*** G. Dambmann, H. Lange, M. Rohde. Mit Edmund Hilary durch den Himalaya. Freiburg 1987, S. 118 

Juni 22, 2024

Pässe II

Kürzlich, auf meiner ersten Reise nach Lalitpur, trug ich meine Wanderschuhen und musste sie bei keiner Kontrolle, an keinem Flughafen ausziehen. Ich behielt sie fast 24 Stunden lang an den Füßen. Nicht weil ich dort sofort in die Berge steigen wollte oder gar über mehrere im Wind schwankende Hängebrücken hinweg gleich mehrere Gebirgspässe passieren wollte. Nein, ich wollte die Wanderschuhe einfach nur stehen lassen. Damit sie angekommen sind. So wie ich zwei volle Koffer, eine Handvoll Bücher und einen meiner beiden laptops stehen lassen wollte. 

Mein halbes Leben steht seit einem halben Monat bereit in Kathmandu. 

Logistisch ist es sinnvoller, schwere Schuhe an den Füßen mitzutragen als im Koffer. Dies ist nur ein Beispiel für grandiose Missverständnisse, die mir gerade auf Schritt und Tritt entgegenschlagen. Rundum wird alles hinterfragt, was ich tue oder lasse. Ständig soll ich mich rechtfertigen. Noch nie in meinem Leben sah ich mich einer so hemmungslos lauernden Dauerbeobachtung ausgesetzt wie in den letzten Wochen und Monaten. Mein eigener Wille zählt nicht und nichts mehr, auch nicht mein Kopf oder mein Bauch, meine Seele, geschweige denn die Träume, mein unruhiger Geist und das ganze, wie ich immer dachte, überdurchschnittlich intelligente Ich!

Die Nepali hingegen stellten keine Fragen. Sie sagten: Oh! You will like it!

Juni 21, 2024

Steine

Ein Stein nach dem anderen rollt den Hang hinunter und fällt mir schließlich vom Herzen. Die russischen Bücher hat mir die Optikerin abgenommen. Die französischen kommen nach Högel. Die italienischen verteile ich wie Pizzastücke. Die polnischen stehen imer noch stramm, geschlossen von A wie Anderman (brak tchu, kraj świata) bis Z z kropką, also Ż wie Żeromski (Przedwiośnie, Dzienniki - 3 grube tomy!), im Regal. Ktoś chętny?

Juni 20, 2024

Stonehenge

Ich hole den allerletzten Aktenordner vom Dachboden und schreddere seinen Inhalt. Das muss geschehen, bevor die Sonne heute Abend ihren höchsten Stand am Himmel über der Nordhalbkugel erreicht. Es ist nicht schlimmer, als ich erwartet hatte, dauert aber deutlich länger. Gerichtsakten, Verhörprotokolle, seitenlange Urteilsbegründungen und Revisionen bis hoch zum BGH. Die Vergangenheit lässt sich nicht restlos eliminieren und in feine Streifen zerschnipselt in die Papiertonne kippen. Nein! Es bleibt dabei und kann nicht oft genug wiederholt werden: Schwiegervaters Leben hat eine Krankenschwester auf der kardiologischen Intensivstation der Berliner Charité vorzeitig beendet.

In Stonehenge - wo sich traditionell Tausende zur Sommersonnenwende versammeln, um die Sonne direkt hinter dem Eingang zum Steinkreis aufgehen und dann ihr Licht exakt auf den Altarstein in der Mitte fallen zu sehen - in diesem Stonehenge trieben gestern Klimaaktivisten ihr Unwesen und besprühten die Megalithblöcke der Jungsteinzeit mit einem sonnenuntergangsfarbenen Pulver. Mit harmloser Maisstärke, wie sie behaupteten, die der erste Regen weggewaschen hätte. Experten zweifelten an dieser Theorie und entfernten das künstliche Sonnenlicht (was sonst wollten die Unholde uns bieten?) rechtzeitig vor dem Auftreten des Natürlichen. 

Juni 19, 2024

Pässe

 Ich besitze zwei Pässe. Im einen Pass ist ein Ort angegeben, den ausländische Behörden gerne als Geburtsort in ihre Akten nehmen. Es ist aber nicht mein Geburtsort. In diesem Heimatland steht die Vergangenheit über der Gegenwart. Der Geburtsort bedeutet nichts, die Herkunft der Väter alles. Im anderen Pass ist mein Geburtsort korrekt eingetragen. Dafür ist der Ort, an dem dieser Pass ausgestellt wurde, ein noplace. In diesem Heimatland steht die Architektur über natürlichen Bodenerhebungen. Die Behörde, die ihren Bürgerinnen und Bürgern persönliche Papiere wie Reisepässe ausstellt, sitzt an mehreren Orten zugleich, im Land, im Kreis, in der Stadt, meist in mehrstöckigen Verwaltungsgebäuden mit Aufzug und Dachterrasse, denn sie bietet ihrem Personal alles, ist eine Krake und betreibt immer mehr Aussenstellen.

Lege ich nun diese beiden Pässe probehalber offen nebeneinander auf meinen Schreibtisch, kann ich mir nicht vorstellen, dass irgendjemand auf der Welt glauben wird, dass sie ein und derselben Person zugeordnet werden müssen. Allein die Tatsache, dass die Fotos in beiden Pässen nicht identisch sind, gewisse Ähnlichkeiten aber auch nicht verbergen, schürt wie der Feuerhaken die Glut. Den Verdacht. Nur ein Pass hat meine Fingerabdrücke! Der andere das Hologramm des Staatswappens! Wer mit mehr als nur einem Pass unterwegs ist, muss eine Verbrecherin sein!

Juni 15, 2024

Haare

Alle nepalesischen Frauen tragen ihr Haar lang. Es ist von Natur aus tiefschwarz. Wie die Augen. Die Frauen sind von Natur aus sehr schön. Je jünger, desto länger, desto schwärzer, desto glänzender das Haar. Einige versuchen, es aufzuhübschen. Ganz ohne Not. Mit Henna Abwechslung, Strähnchen reinzukriegen.

Nur bei Lhakpaphuti lese ich "Nanda was in jean pants. She had cut her hair short and looked beautiful" (S. 224 Forty Years in the Mountain). Nanda, Pasang und Lhakpaphuti auf dem Weg zum Everest, das erste nepalesische women-team ever. Im März 1993. Die Expedition misslang. Nanda wurde krank, Pasang scherte aus - trotz mehrerer "bad omens" - und kam vom Alleingang nicht zurück, Lhakpaphuti hatte keine Gefährtinnen mehr und begrub ihren Traum. Eine der vielen bedrückenden Geschichten in diesem Buch. Keine/r darf sich über die Götter erheben!

Ich hingegen bin eine von zwei Frauen in Kathmandu mit raspelkurzen Haaren. An jenem Sonntag auf jener Bank begrüßte mich jene Dame, die in Zukunft unsere Dollars verwalten wird, mit den Worten: I know you! Oh, antwortete ich reichlich verblüfft. Where did we meet? I can't remember. War ich doch zum ersten Mal und gerade mal ein paar Tage in Nepal. Sie zippte und zappte auf ihrem handy herum und zeigte mir unzählige Bilder. Der ganze kleine Bildschirm voller einzelner, noch kleinerer Bilder. Tatsächlich ist auf allen, wie auf den früheren Negativstreifen - nur in Farbe und nicht spiegelverkehrt - , eine Frau mittleren Alters zu sehen, natürlich ergraut, flotter Kurzharschnitt. Aber das bin nicht ich! Das ist die derzeit amtierende Schweizer Botschafterin in Kathmandu. 

Eingereist bin ich mit meinem deutschen Pass, dort klebt auch das mittlerweile abgelaufene Visum. Das Bankkonto musste ich als Deutsche eröffnen, weil ich als Schweizerin kein Visum besass und mich folglich illegal im Land aufhielt. Wer zwei Pässe besitzt, lebt immer am Rande des Abgrunds, fällt leicht zwischen Stuhl und Bank, Baum und Borke, Hammer und Amboss.

Für mein zukünftiges Leben lerne ich erstmal, mir selber die Haare zu schneiden.

Juni 11, 2024

monsoon clouds

Kaum sind wir weg, kommt der Regen, und zwar verfrüht! Normalerweise, sagen die nepalesischen Meteorologen, beginnt die monsoon season am 13. Juni und endet am 23. September. Aber: monsoon clouds entered the country from eastern Nepal on Monday, three days ahead of the usual onset date. Ab morgen soll der Regen das Kathmandu valley und die Hauptstadt erreichen. Geschätzt 1,81 Millionen Menschen und 412,000 Haushalte sollen gefährdet sein in diesem Jahr.

https://kathmandupost.com/climate-environment/2024/06/10/monsoon-enters-nepal-three-days-ahead-of-schedule

Juni 09, 2024

without - within

Ich bin zurück und nicht ansprechbar. Seit dem Umsteigen in Dubai rebelliert alles in mir. I didn't want to come back! Wenn ich richtig rechne, war ich fast 24 Stunden unterwegs, durch die Zeitverschiebung aber kaum einen halben Tag.

Ich schlafe und lese. Und lese und schlafe. Ich bin mit einem einzigen Buch zurückgekommen, das mir die Autorin Lhakpa Phuti Sherpa auf den Weg mitgegeben hat: Forty Years in the Mountains

My English is not perfect - seltsamerweise aber habe ich den Eindruck, als ob durch die an vielen Stellen holpernde englische Übersetzung das nepalesische Original näher an mich heranträte. Learning by reading! 

Juni 08, 2024

left

Wir stehen mit der Sonne auf und ich werfe einen letzten Blick vom Balkon im 5. Stock. So leer und still habe ich die Stadt noch nie erlebt. Sogar ein Geh-Behinderter mit Stock, den ersten, den ich sehe, überquert in aller Ruhe die unbelebte Straße! Auch von den Vögeln mit den malerischen Augen ist nichts zu sehen und nichts zu hören. Wir verlassen den Linksverkehr und heben ab in Richtung Westen. Ich sitze am Fenster und schaue hinab auf die Häuser und Köpfe, die die Turbinen am Samstagmorgen - dem Sonntag Nepals - in Lalitpur malträtieren. 

Juni 07, 2024

(c)o two

Diesen Baum habe ich aus der gestrigen Oase gerettet. Auf einen leichten Tag folgt ein schwerer. Das übermütige Spiel mit den Dämonen rächt sich. Wir fahren nochmals dreimal quer durch die Stadt. Sehen den ersten Verkehrsunfall, leichter Blechschaden zweier Überlandbusse. Beglücken Taxifahrer und schauen Wohnungen an, die für uns nicht in Frage kommen. Ich packe und mich packt die Verzweiflung. Natürlich lasse ich die 40 kg mitsamt laptop hier, aber ich muss sie wieder verteilt bekommen auf zwei Koffer. Ein Kollege von W. wird mein halbes Leben an sich nehmen und beaufsichtigen, bis ich mit der anderen Hälfte wiederkomme. Dass wir keine Bleibe gefunden haben, findet niemand ungewöhnlich, nicht einmal wir. Das Umgekehrte wäre erstaunlich gewesen und wir haben gelernt, mit guten Ratschlägen umzugehen. Möbel sind immer Geschmackssache. Teppiche auch. Wohnungen sowieso und landende Flugzeuge über den Köpfen, wer will das zum anderen Lärm umsonst noch obendrauf bekommen?

Juni 06, 2024

Advice from a tree

Ich verbringe einen Tag im Grünen. In einer Oase der Stille, umgeben von alten Bäumen und jungen Vögeln. Ich habe ganz vergessen, wie relaxing Ruhe ist. Wir denken nach und sind uns einig, dass es keinen Sinn macht, heute einen Mietvertrag für eine Wohnung zu unterschreiben, die noch eine Baustelle ist. Für ein Jahr, mit Vorauszahlung von 6 Monatsmieten plus 2 Kaution. Und einer beiderseitigen Kündigungsfrist von einem Monat, wobei weder bereits bezahlte Mieten noch die Kaution verrechnet werden.

Ich sitze in einer Gartenschaukel im Schatten und lese in meinem zweikiloschweren Himalayabuch mit dem Ama Dablan auf dem cover und einer dieser horrible suspending bridges. Ich lese von Geistern und Dämonen, von Gorkhakämpfern und Sherpas. Und am Abend beim business-Empfang treffe ich alle diese Leute leibhaftig.

Advice from a tree

- Stand tall and proud

- Go out on a limb

- Remember your roots

- Drinking plenty of water

- Be content with your natural beauty

- Enjoy the view 

Juni 05, 2024

Weitergehen

Wir sind nicht zum Vergnügen hier, also arbeite ich den halben Tag, bis ich vor Hunger fast vom Stuhl falle. Nach dem Essen (fried rice) bin ich so müde, dass ich auf dem Sofa einschlafe. Mein Spaziergang verschiebt sich deshalb in die Abendstunden und ich lerne, dass mir die Dunkelheit keineswegs entgegenkommt beim Überqueren der Straßen. Meine größte Herausforderung in diesem Land ist das Gehen, das Vorwärtsgehen, Weitergehen. Irgendwann werde ich die laute Stadt verlassen und in die Berge, in die Höhe gehen wollen. Nicht auf den Everest. Nicht in meinem Alter. Darunter ist es überall hoch genug. Ich (alp-)träume von den Hängebrücken, die überall über engen Schluchten hängen, im Winde schwanken, in schwindelerregender Höhe und immer mal wieder Teile verlieren. Wer Pech hat, tritt mittendrin ins Leere. So stelle ich mir das schweißgebadet vor. Die schwer beladenen Yaks laufen aber auf den Filmchen bei YouTube unbekümmert rüber, Schulkinder auch, die Bauern sollen störrische Esel mitsamt ihrer Last gerne mit zusammengebundenen Beinen huckepack rübernehmen. Damit sie nicht verloren gehen. Gestern querte ich zweimal eine großstädtische Variante. Aus massivem Eisen. Über einem vertrockneten Rinnsal, sozusagen bodennah, auf Straßenniveau. Alle warten hier auf Regen. 

Und ich werde mir einen Lama suchen, der mir hilft, die Höhenangst zu überwinden. 

Noch habe ich das Gefühl, dass alles hier im ruhigen Fluss ist. In Warschau oder Berlin erkennt man Touristen daran, dass sie herumschlendern, sich zu langsam bewegen, herumgucken und den Einheimischen im Weg stehen. Hier ist es umgekehrt. Ich bin immer schneller und ungeduldiger als die Nepalis. Nicht nur Frauen und junge Mädchen schlendern, schwatzen, untergehakt oder nicht. Auch Männer. Jeden Alters. Niemand scheint es hier eilig zu haben. Das Tempo der Motorisierten ist rein äußerlich. Scheint mir. Wie das Hupen. Das ist eher Warnung als Wut. Aufruf zur Vorsicht. Keine Aggression. Niemand will dem andern etwas Böses. Nur Vorwärtskommen. Jeder weicht aus. Immer rechtzeitig. Scheint mir.

Die Studentin kürzlich sah das alles ganz anders. 

Juni 04, 2024

mixture

everything is a mixture ... meine Sprache auch. Und meine Gedanken wandern, wie die Füße. Stolpern, brennen. Heute vor 35 Jahren durften die Polen zum ersten Mal frei wählen. Und heute habe ich frei, weil W. busy ist auf seiner conference am anderen Ende der Stadt, also in Kathmandu. Geduldig warte ich das (heftige!) Gewitter am Mittag ab und durchquere dann Lalitpur von der Pucho Thura (Western Ashoka Stupa) zur Teta Thura (Eastern Ashoka Stupa). Puh! Das ist heftig! Auf dem Rückweg komme ich an der Ibahi Thura (Northern Ashoka Stupa) vorbei, mehr oder minder ungeplant. Die größte, die Lagan Thura (Southern Ashoka Stupa) spare ich mir für den nächsten Spaziergang und bringe so wahrscheinlich wie gewohnt alles durcheinander. Alle Heiligtümer sollen hier nämlich im Uhrzeigersinn abgeschritten werden. Aber ich bin schon so frei, dass ich an jedem Schrein oder Tempel, von denen es wahrlich genug gibt, die Gebetsmühlen drehe und wenn vorhanden, die Glocke schlage. Was sein muss, muss sein. Entkräftet esse ich unterwegs die besten Mo:mo's ever. Die Speisekarte ist von Hand in Nepali geschrieben, aber der Kellner versteht, was ich will.

Am Abend lese ich "Lost Horizon" aus, ein uraltes Taschenbuch mit vergilbten Seiten, die meinen Augen einiges abverlangen. Der Autor, James Hilton, hat mit diesem Buch nicht nur Weltruhm erlangt (really? who still remembers him?), sondern vor allem den Begriff (und die Vorstellung dahinter) von Shangri-La in die Welt (nicht nur der Literatur sondern auch des commerce) gesetzt. Das übliche Muster eines versierten Schreibers der ersen Hälfte des vergangenen Jahrhunderts: ein "gefundenes" (hier: eine nur mündlich überlieferte Geschichte) Manuskript entledigt den Erzähler jeglicher Verantwortung für dessen Inhalt und/oder Form. Er kann sich beständig darauf berufen, dass die facts nicht verifizierbar und die protagonists unauffindbar oder nachweislich nicht mehr am Leben seien. Im konkreten Fall: dass es überhaupt nicht seine Schuld sein könne, dass der resoluten britischen Missionarin Brinklow eindeutig zu wenig literarischer (Spiel-)Raum zugeteilt wurde. Eine Männerfantasie

Juni 03, 2024

kalahapriya

Das ist einer der Namen meiner Hirtenmaina im Sanskrit. Bedeutet, wie ich lese, soviel wie "einer, der gerne streitet". Sie streiten sich tatsächlich den ganzen Vormittag auf meinem Balkon im 5. Stock. Der Jungvogel, mächtig gewachsen, ist wieder da und die Alten möbeln ihn mächtig zusammen vom Geländer herunter, was ihm einfalle, sich wieder in die Ecke zu verkrümeln und den Schnabel aufzusperren. Im Sanskrit heißt er auch chitranetra (= der mit malerischen Augen) oder peetanetra (= der mit gelben Augen) oder peetapaad (= der mit gelben Beinen). Trifft alles zu!

Ich sehe heute den ersten Affen über die Stromkabel über der Strassenkreuzung wetzen. Ich lerne heute, dass nicht Toleranz Hinduisten und Buddhisten friedlich neben- oder miteinander leben lässt, sondern das Teilen. We share, what we have. We share, what is good. Eine Studentin führt mich in die Hinterhöfe und zu den alten Newarhäusern. Und wir landen schließlich im Goldenen Tempel. We share everything, sagt sie. It`s a mixture. Der Goldene Buddha ist für alle da. Man soll einmal oder dreimal die Runde um das Heiligtum vor ihm drehen. 

Als wir zurück sind in der Welt des Verkehrs und des Hupens, ist sie sehr erstaunt (und erleichtert), als ich sage, dass ich keinerlei Scheu habe, auf die andere Straßenseite zu kommen. Ich erzähle ihr, wie ich die Angst abgelegt habe, ehe sie von mir Besitz ergreifen konnte: eine Stunde Kontemplation vom Balkon des 5. Stocks aus auf eine lärmende Straßenkreuzung der Stadt hinunter, in der sie geboren und aufgewachsen ist. Ich an meinem ersten Tag, in den ersten Stunden in diesem Land und in dieser Stadt, Lalitpur oder früher Patan. Ich übermüdet und überfordert, ungereimt und unsortiert. Ich sah, dass dort unten alles im Fluss ist und kein Grund zur Sorge besteht. Ich biete ihr an, dass wir uns nun trennen, no problem at all, wenn ihr Heimweg auf dieser Seite der Yala Sadak liegt und meiner auf der anderen. 

Wir winken uns noch einmal zu, ehe ich hinter der westlichen Ashoka Stupa (Pucho Thura) bereits die nächste Straße überqueren muss.

Juni 02, 2024

working day

Der Samstag ist hier der Sonntag. Davon habe ich gestern nichts gemerkt. Heute hingegen, am Sonntag Mittag verbringen wir viel Zeit in der Hauptgeschäftstelle einer Nepalesischen Bank. Füllen Formulare zur Eröffnung zweier Konten aus, eines für W. und eines für mich. Dann besichtigen wir unser neues Heim, eine zweistöckige Wohnung, an der noch heftig gebaut wird, nur das Terrassengeländer in der unteren Etage ist bereits blau gestrichen. Blau scheint Nepals Lieblingsfarbe zu sein. Wir brauchen zwei Konten und zwei Stockwerke. Unterwegs - wir stehen heute viel länger im Stau als wir je auf einer Bank saßen - wird mir eine nepalesische SIM-Karte in mein Smartphone appliziert, neben meine deutsche. Nun weiß ich gar nicht mehr, wer oder wo ich gerade bin. Ich lerne, über InDrive Taxis zu bestellen, auf zwei oder vier Rädern, und komme für mich selbst überraschend sofort auf die verwegene Idee, mir, wenn ich dann dereinst alleine unterwegs bin, ein Motorcycle vor die neue Haustür zu bestellen. Ich bin noch nie in meinem Leben Moped gefahren, und noch nie als Rockerbraut hinten aufgestiegen, ohne Helm aber mit Maske. Die Luft lässt tatsächlich zu wünschen übrig an einem Tag wie diesem. Ich beobachte, wie Damen jeden Alters mitfahren, gelassen, mit oder ohne Einkaufstüten, Bürostühlen oder Plastikpalmen, und ohne sich irgendwo festzuhalten, jedenfalls nicht am Bauch des Fahrers, der meist ein fremder Mann ist.

Ich habe bereits gelernt, dass ich viel lerne, wenn ich nur lange genug hinschaue.

Am Abend Sound Bath (drowning in the calming vibrations of singing bowls, gong, hang, flute and pipe) und Vegetarian Food. Ice Cream on Warm Brownie at the End of the Day successfully Worked out. Delicious!

Juni 01, 2024

Steigbügel

Ich gehe vor dem Frühstück einkaufen und rücke nach dem Frühstück unserem immer noch flugmüden Hausvogel den Frühstückstisch so hin, dass er ihn mit seinen kräftigen gelben Beinen als Steigbügel vom Küchenfensterbrett zur Balkonbrüstung nutzen kann. Die Altvögel kreischen immer lauter, ungeduldiger, schon leicht entnervt - und der erste Versuch misslingt natürlich. Die erschöpfte Hirtenmaina muss noch einmal von vorne beginnen. Sie ist tapfer, aber bedingt lernwillig. Als sie endlich oben auf der Brüstung zwischen Papa und Mama angekommen ist, fordert sie Futter. Trampelt mit den Krallen und sperrt den Schnabel weit auf. Die Erziehungsberechtigten fordern Gehorsam, trampeln auch mit den gelben Krallen und schlagen mit den Flügeln: Abflug! 5. Stock, ein Kinderspiel! Nach ungefähr einer weiteren Stunde ist es dann so weit und sie ziehen zu dritt in den gepflegten Garten des United Nations House gegenüber.

Ich danke Lord Buddha für die erste Lektion.

Dem Kassenzettel vom Bhat-Bhateni Super Market (Patan) entnehme ich das heutige Datum: 19/2/2081